Die Kinder sind wieder gesund und im Kindergarten. Und weil auch ich mich wieder besser fühle und die Sonne scheint, nutze ich die Gunst der Stunde und fahre mit der U-Bahn in die Lower East Side Manhattans. Die Anfahrt ist kurz, 5 U-Bahnstationen. Von einigen Straßen der Lower East Side aus kann man sogar die Brückenpfeiler der Williamsburg Bridge, die Manhattan und Brooklyn verbindet, sehen. Also kann man Brooklyn quasi zuwinken. Tja, die Lower East Side am Morgen ist ein bisschen- witzlos, muss ich sagen. Bekannt für Restaurants und Clubs, ist das Viertel um zehn Uhr morgens total verschlafen. Es fahren kaum Autos, auch Fußgänger sind wenige unterwegs und die wenigen interessant anmutenden Shops haben noch zu. Öffnungszeiten sind hier in aller Regel gegen 11:30, frühestens. Aber ob man zum Shoppen herkommen sollte, weiß ich eh nicht, da gibt es wohl bessere Gegenden. Die Atmosphäre hier ist eigenartig, es ist so ungeordnet, unruhig. Die ersten (dh in meinem Fall, südlicheren) Straßen, die ich durchwandere, sind von dem sich immer weiter ausweitenden China Town geprägt, chinesische Schriftzeichen allüberall. Im Park ertönt chinesische Popmusik, zumindest nehme ich an, dass es Pop ist. Chinesisch ist es jedenfalls. Dazu übt eine chinesische Rentnergruppe einen ziemlich flotten und fröhlichen Tanz. Das ist allerliebst und ich würde es gerne fotografieren, traue mich aber nicht. Ich wäre eine katastrophale Fotojournalistin, Menschen zu fotografieren erscheint mir immer so dreist und frech, dass ich es dann doch lieber lasse, auch wenn ich die unglaublichsten Motive vor der Nase habe. Als nächstes begegne ich dem Manhattan Ableger "meiner" Cocoa Bar, ohne danach gesucht zu haben und ohne dass mir überhaupt bewusst war, dass dieser hier zu finden ist. Das ist doch immerhin mal ein Lichtblick. Ich wandere weiter bis zu meinem eigentlichen Ziel, dem Tenement Museum. "Tenement" heißt eigentlich sowas wie "Mietshaus", hier handelt es sich aber um ein Einwanderungsmuseum. Dieses wollte ich schon besucht haben, als wir das letzte mal hier gelebt haben, aus irgend einem Grund hat es aber nicht geklappt. Ich erfahre, dass man sich das alte Haus mit Originalmobiliar und -gegenständen der ehemaligen Einwohner nicht auf eigene Faust ansehen kann, sondern eine Tour buchen muss. Ok. Ich laufe bis zum Beginn meiner Tour nochmal ein bisschen durch die angrenzenden Straßen und stoße auf das berüchtigte "Katz´s Delicatessen", wo Sally (Harry & Sally) ihre berühmte Stöhnszene hatte. Der Laden ist ansonsten für sein Pastrami Sandwich bekannt, aber da ich außer Chicken Wings kein typisch amerikanisches Essen so fies finde wie Pastrami, halte ich mich nicht weiter auf und gehe zurück zum Museum.
Die von mir gebuchte Tour betrachtet das Leben irischer Einwanderer, die tatsächlich in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in diesem Haus gewohnt haben. Sie hießen Bridget und Joseph Moore, waren blutjung vor der Hungersnot in Irland geflohen, hatten zunächst in Five Points gelebt und dort drei Töchter bekommen. Ihr jüngstes Kind, die 5 Monate alte Agnes, war krank, und da Joseph einen "guten" Job (verglichen mit vielen anderen ehemaligen irischen Farmern, die bestenfalls an der Brooklyn Bridge mitbauen durften) als Kellner in einer irischen Kneipe hatte, zog die Familie in die mutmaßlich etwas bessere Nachbarschaft. Die Lower East Side hieß damals "Klein Deutschland" und so lebten außer dieser irischen Familie zu der Zeit denn auch nur deutsche Auswanderer in diesem Haus. Das Apartment, das die Familie bewohnte, ist winzig klein. Minischlafzimmer (ohne Fenster), Küche (ohne Fenster), Miniwohnzimmer. Unvorstellbar, die Zustände in NY in den damaligen Zeiten. Klar war mir bewusst, dass es damals noch kein fließendes Wasser, keine Toiletten in den Wohnungen und schon gar keinen Strom gab. Klar wusste ich, dass die Einwanderer ein verdammt hartes Leben hatten. Ja, ich wusste auch, dass der Müll einfach auf die Straße gekippt wurde und der Inhalt der Nachttöpfe ebenfalls. Wenn man aber Namen und Gesichter hat, wenn man umgeben ist von Möbeln und Gegenständen, die sie tatsächlich benutzt haben, in den kleinen Kämmerchen, die sie tatsächlich bewohnt haben, kommt einem dieses abstrakte Wissen eben irgendwie nah. Was hätten sie sich wohl gedacht, wenn sie gewusst hätten, dass 150 Jahre Touristengruppen durch ihr Apartment marschieren und von ihrem Leben hören? Hätten sie sich gefreut oder wären sie verärgert gewesen? Vermutlich wäre es ihnen egal gewesen, sie hatten ja genug damit zu tun, schlicht zu überleben. Der Tour Guide hatte uns gewarnt: irische Geschichten sind meistens traurig, so auch diese. Die kleine Agnes starb im Alter von 6 Monaten an Tuberkolose. Spätestens, als ihr Totenschein herumgereicht wird, habe ich natürlich Tränen in den Augen und muss so tun, als hätte ich Probleme mit den Kontaktlinsen. Diese elende Heulerei immer. Joseph und Bridget bekommen noch 5 Mädchen, 3 weitere sterben. Bridget wird nur 36 Jahre alt, Joseph heiratet nie mehr. Traurig, traurig.
Die Tour ist sehr sehr interessant und informativ und ihren (hohen) Preis auf jeden Fall wert. Es gibt auch noch eine Tour, die sich mit deutschen und amerikanischen Einwanderern zu Zeiten der Depression befasst und wenn ich die Zeit finde, werde ich mir diese sicher auch noch einmal ansehen/anhören.
Die Lower East Side ansonsten ist in den Morgenstunden wirklich eher unspannend. Ich bin aber sicher bzw. erinnere mich, dass sie abends/nachts viel zu bieten hat. Aber da kann ich (leider) derzeit nicht mitreden.
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