Letztens war ich mit den Kindern auf dem Weg zum Eisessen. Vor dem Cafe´ parkte ich den Kinderwagen und schnallte R. ab, während L. schon einmal vor lief. 10 Sekunden später hatte ich aber einen panisch kreischenden Jungen am Bein hängen und war völlig ratlos, was passiert sein könnte. Hatte er die Tür vor den Kopf bekommen? Kopfschütteln mit weit aufgerissenen Augen. Ja, was denn nur passiert sei, fragte ich, aber bekam nur ein kleinlautes "Mein Auge tut weh" zu hören (Kind wusste irgendwo im tiefsten Inneren genau, dass es keinen Grund zur Furcht gab). Kopfschüttelnd nahm ich also den großen Jungen auf den Arm und ließ das kleine Mädchen vor laufen; ich dachte, das klärt sich schon. Und das tat es dann auch, als die Tür zum Cafe´ aufging und das Kind auf meinem Arm wieder jämmerlichst zu kreischen anfing und sich regelrecht an mich krallte. Ich verstand in der gleichen Sekunde haargenau, was ihm solche Angst machte, denn zur Tür heraus kam eine sehr alte Dame, die klein, gebückt und schlohweiß war, in lange Gewänder gekleidet, und, man kann es nicht anders sagen, einen wirklich schrecklich stechenden Blick hatte. Es fehlten nur noch Abraxas auf der Schulter und die Warze auf der Nase und man hätte sie sofort in jedem Märchenfilm als böse Hexe besetzen können. Ich murmelte irgendeine Entschuldigung, während ich das Ömmchen vorbei ließ - und war ein bisschen peinlich berührt. Es gab da wenig Spielraum für gnädige Lügen, es war ganz offensichtlich, dass Söhnchen ihretwegen so verängstigt war. Ich habe mich gefragt, ob es mich wohl verletzen würde, wenn mir so etwas im Alter passiert, aber wer kann schon Antwort auf eine solche Frage geben? Ich hoffe sehr, "unser" Ömmchen hat es mit Humor genommen und nachmittags ihren Enkeln als Spaßgeschichte zum Kuchen serviert, befürchte allerdings, dass es nicht so war. Ihr Blick war tatsächlich furchterregend und ging selbst mir durch Mark und Bein.
Beim Eis habe ich das Thema dann natürlich aufgegriffen, und L. gab schließlich flüsternd zu, die Dame habe ausgesehen wie die böse Hexe von Hänsel und Gretel. Es gibt keine Hexen, sagte ich bestimmt, und er ebenso bestimmt: "Das weiß ich schon. Aber schreckliche Omas, die gibt es." Puuh, wie nimmt man solche Ängste? Ich war da scheinbar nicht erfolgreich. Obwohl ein langes Gespräch darüber folgte, dass Menschen eben ganz verschieden aussehen, und gerade alte und kranke Menschen uns manchmal etwas eigenartig aussehend vorkommen. Dass man auch angestrengt oder böse gucken kann, weil es so heiß ist oder man vielleicht Schmerzen hat. Dass man am Aussehen alleine erstmal nicht erkennen kann, ob Menschen lieb sind oder nicht, und dass dies sicher eine ganz nette alte Dame war, und so weiter und so fort. Dennoch hat der kleine Junge mit der großen Fantasie sich an dieser "schrecklichen Oma" ziemlich festgebissen und fragt nun tatsächlich, wenn er auf der Toilette ist, ob er herauskommen kann und auch keine Oma vor der Tür steht. Beim ersten Mal habe ich die Frage gar nicht richtig kapiert, beim zweiten Mal ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen und ich musste erstmal ganz leise lächeln. Aber: wenn L. nachts aufwacht, schafft er die 10 Meter in unser Schlafzimmer nicht, aus Angst, die Oma lauert irgendwo- er ruft, und ich muss ihn holen. Herrjeh, was in diesen Kinderköpfen vorgeht. Außer viel darüber Reden fällt mir mal wieder nichts Gescheites ein, aber wahrscheinlich muss er da auch letztlich einfach durch, der kleine Kerl.
Weil ich so viel über dieses runzlige Ömmchengesicht nachgedacht habe, ist mir etwas aus meiner eigenen Kindheit eingefallen, was ich völlig verdrängt hatte: die Kicherhexe meiner Oma Gertrud. Die Kicherhexe war eigentlich nur ein hölzerner Hexenkopf, den meine lebenslustige Oma von einer ihrer Deutschlandtouren mitgebracht hatte, vermutlich aus dem Schwarzwald. Den Hexenkopf konnte man an die Wand hängen, und wenn man an einer Schnur zog, die irgendwo unter dem Knoten des Hexenkopftuchs (rot-weiß kariert, na klar) herausguckte, dann rollte die Hexe mit den Augen, lachte langanhaltend und in den höchsten Tönen, und anfangs kam sogar noch Wasser aus der Zunge "gespuckt", die sie beim Lachen herausstreckte. Anfangs. Bis ich das Vieh zum 7. Mal auseinander genommen und wieder zusammen gebaut hatte. Danach konnte sie lange Zeit nur noch lachen und irgendwann auch das nicht mehr. Ich liebte die "Kicherhexe", wie wir sie nannten. Ich durfte sie oft vom Haken nehmen und eben auseinander bauen, manchmal stand sie aber zum Beispiel auch auf dem Tisch neben mir und schaute mir beim Spielen oder Lesen zu. Aber ich liebte sie nur tagsüber. Nachts, wenn ich zur Toilette gehen musste, musste ich an ihr vorbei gehen, und davor hatte ich Angst. Ich wagte nicht, sie anzusehen, und kniff die Augen entweder fest zu oder schaute angespannt auf meine Zehenspitzen, wenn ich den Flur zwischen Wohnzimmer und Bad entlang huschte, wo sie hing. Ich wusste ganz genau, dass die Kicherhexe aus Holz war, ich hatte sie ja schon zig mal untersucht. Aber das änderte nichts an meinem Unbehagen in der Nacht, gar nichts. Um ehrlich zu sein: gäbe es sie noch- ich könnte nicht beschwören, dass ich nicht immer noch den Kopf wegdrehen würde, wenn ich nachts an der guten alten Kicherhexe vorbei müsste.
Meine Oma weiß inzwischen leider nicht mehr, was sie noch drei Minuten vorher gesagt hat, aber an Dinge, die in der weiten Vergangenheit liegen, erinnert sie sich noch sehr gut. Ich werde sie das nächste Mal, wenn ich sie sehe, auf jeden Fall mal fragen, ob sie sich noch an die Kicherhexe erinnert. Vielleicht nehme ich L. auch mit. Vielleicht aber auch nicht. Denn meine Oma lebt inzwischen im Altenheim, und da ist die Ömmchendichte doch verdammt hoch!
Kinder und ihre Phantasien sind einfach unberechenbar...
AntwortenLöschenVielleicht weiß deine Oma ja noch woher sie die Hexe hatte...
Hatte J. ne Zeit lang auch ganz extrem. Da wurde sogar tagsüber das Licht auf dem Weg zur Toilette angemacht und hinter jedem Vorhang der Klabautermann höchstpersönlich vermutet. Mittlerweile geht es wieder. Aber irgendwie hat dieses magische Alter ja auch wieder was.
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